»Das Feuer Deiner Gnade«

Über das Konzert

Gnade ist ein weiter und viel strapazierter Begriff. Von der Grundbedeutung des freiwilligen Verzichts auf Bestrafung – wie in „Gnade vor Recht ergehen lassen“ – erweitert ihn der Sprachgebrauch auf jede wohlwollende Zuwendung eines Höhergestellten gegenüber den ihm Untergebenen oder Unterworfenen. In der Bibel ist häufig von der göttlichen Gnade die Rede. Mit dem Ausloten deren theologischen Bedeutungsspektrums lassen sich Bände füllen – die katholische Gnadenlehre und Luthers sola gratia seien hier erwähnt. Nicht zuletzt nennt man einen Künstler „begnadet“ wenn er – vielleicht durch göttliche Gnade – mehr als das übliche Maß an Begabung mitbekommen hat.

Der französische Dramaturg und Dichter Jean Baptiste Racine entdeckte in einem 1688 erschienenen Gedicht das Feuer in der Gnade und verhalf der Vokabel damit zu einer neuen, poetischen Dimension.

Um die Beziehung von Racines Gedicht zum Programm des heutigen Konzerts zu erklären, begeben wir uns fast 200 Jahre näher an die Gegenwart heran, ins Jahr 1864. Für den 19-jährigen Gabriel Fauré begann das letzte Schuljahr seiner Ausbildung an der renommierten Kirchenmusikschule École Niedermeyer in Paris. Über das Bestehen der Abschlussprüfung musste sich der begabte Schüler keine allzu großen Sorgen machen. Wichtig war ihm aber der alljährlich ausgeschriebene Kompositionswettbewerb des Instituts. Schon mehrfach hatte Fauré mit großem Ehrgeiz daran teilgenommen, war dabei aber nicht über einen zweiten Platz und lobende Erwähnungen hinausgelangt. Nun, in seinem Abschlussjahr, bot sich die allerletzte Chance auf Teilnahme und Gewinn.

Die wesentliche Aufgabe des Wettbewerbs bestand in der Komposition eines „instrumentierten geistlichen Vokalstücks“. Faurés abschließender Wettbewerbsbeitrag war der heute in unserem Konzert aufgeführte Cantique de Jean Racine. Der junge Komponist ging damit ein Wagnis ein, denn im katholischen Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren die Texte geistlicher Kompositionen in aller Regel in lateinischer Sprache gehalten, er hatte aber einen französischen Text ausgewählt. Dies überrascht umso mehr, als es sich bei dem französischen Text „Verbe égal au Très-Haut“ (Wort, dem Höchsten gleich) um die übersetzende Nachdichtung des lateinischen Hymnus Consors paterni luminis handelte, eine lateinische Textversion somit zur Verfügung gestanden hätte.

Der Übersetzer, Jean Baptiste Racine, gilt als einer der bedeutendsten Dichter der französischen Klassik. 1688 erschien seine Sammlung Hymnes traduites du Bréviaire romain mit Nachdichtungen von Hymnen aus dem „Stundenbuch“ Breviarium Romanum, darunter „Verbe égal au Très-Haut.“ Gabriel Fauré waren Racines Gedichte aus dem Literaturunterricht der eher konservativen École Niedermeyer wohlvertraut.

Um Faurés Entscheidung für die französische Version zu verstehen, bietet sich ein Vergleich von Original und Nachdichtung an. Betrachten wir zum Beispiel die zweite Strophe. Der elegante, aber recht knapp gehaltene lateinische Text lautet:

Aufer tenebras mentium, Nimm weg die Finsternis des Geistes,
fuga catervas daemonum, verjage die Scharen der bösen Geister,
expelle somnolentiam, vertreibe die Schläfrigkeit,
ne pigritantes obruat. dass sie die Trägen nicht befalle.

Racine macht daraus:

Répands sur nous le feu Gieße über uns aus
de ta grâce puissante, deiner mächtigen Gnade Feuer;
que tout l’enfer fuie Die ganze Hölle fliehe
au son de ta voix, beim Klang Deiner Stimme;
Dissipe le sommeil Vertreibe den Schlaf
d’une âme languissante, einer matten Seele,
qui la conduit der sie dazu bringt,
à l’oubli de tes lois! deine Gesetze zu vergessen!

Zum einen verschiebt Racine den Standpunkt von einem mehr oder weniger außenstehenden Beobachter auf das subjektive Erleben des Gläubigen. Daneben findet auch eine theologische Ausdeutung statt, wenn z.B. die „Finsternis des Geistes“ nicht einfach so hinweg genommen wird, sondern in Form einer pfingstlichen Erleuchtung. Zusätzlich wird der Text mit kraftvollen poetischen Wendungen aufgeladen, wenn z. B. für die Erleuchtung nicht etwa das Feuer des Heiligen Geistes ausgegossen wird, sondern das Feuer der mächtigen göttlichen Gnade.

Dem Leser im Zeitalter des Absolutismus war Gnade ein vertrauter Begriff, hing er doch im täglichen Leben stets von der Gnade seiner Obrigkeit ab.

Auch die von Racine vorgenommenen Veränderungen in der dritten Strophe sind interessant. Hier das lateinische Original:

Sic, Christe, nobis omnibus Darum, Christus, mit all uns
indulgeas credentibus Gläubigen sei nachsichtig,
ut prosit exorantibus dass es nütze den inständig Betenden
quod praecinentes psallimus. welche Gesänge wir Dir vortragen.

Dazu die französische Umdichtung:

O Christ sois favorable O Christus, sei diesem
à ce peuple fidèle treuen Volk gewogen,
pour te bénir das nun zu deinem
maintenant rassemblé, Lobe versammelt ist;
Reçois les chants qu’il Nimm die Lieder an, die es zu
offre à ta gloire immortelle, deinem unsterblichen Ruhm darbringt;
et de tes dons Und möge es zurückkehren
qu’il retourne comblé! erfüllt von Deinen Gaben!

Die bereits angeklungene Gnade wird in der ersten Zeile von Nachsicht (indulgentia) zu Gunst (faveur) umgedeutet. Vor allem aber versetzt uns Racine mitten in einen Gottesdienst, in dem wir als lobsingende Gemeinde mit dem Erlebnis göttlicher Gnade beschenkt werden und erfüllt davon nach Hause zurückkehren.

Diesen spirituellen Moment und das nachfolgende Glücksempfinden hat Gabriel Fauré klar erfasst und in seinem Wettbewerbsbeitrag kongenial in Musik umgesetzt – und das, obwohl er als nicht besonders religiös galt. Der emotionale Ausdruck, den er damit erreichte, ließ das gewagte Spiel aufgehen: nach einigen Diskussionen über die Regelkonformität der Komposition wurde die Einreichung akzeptiert und Fauré erhielt dafür den erhofften ersten Preis.

Unter dem Titel Das Feuer Deiner Gnade werden wir Ihnen in diesem Konzert weitere geistliche Kompositionen darbieten, die ähnlich erleuchtete Momente darstellen oder vielleicht sogar auslösen wollen und dafür ihr poetisches Feuer entfachen.

Der erste Blick fällt hier auf die Komponisten der französichen Romantik, zu deren Tradition Fauré zählt. Einer der am engsten mit Fauré verbundenen Komponisten ist César Franck, dem der Cantique gewidmet war, und der eine der ersten Aufführungen dirigierte. In diesem Konzert hören Sie von Franck die Vertonung des 150. Psalms, der vom begeisterten Lobgesang angesichts der göttlichen Wundertaten handelt.

Im deutschsprachigen Raum schrieb César Francks Zeitgenose Anton Bruckner ähnlich expressive Kirchenmusik. Seine Kontakte zur französischen Musikwelt beschränken sich allerding auf eine einzige Konzertreise nach Nancy und Paris. Immerhin soll er dort Camille Saint-Saëns und César Franck mit seinem Orgelspiel tief beeindruckt haben. Wie Franck hat auch Bruckner eine Vertonung des 150. Psalms erschaffen. Wir führen heute aber seine Motette ecce sacerdos magnos auf. Ihr Text stammt aus der gleichen Quelle wie Consors paterni luminis, dem Breviarium Romanum. Nur wäre es Bruckner niemals eingefallen, als Textgrundlage statt dessen eine deutsche Übersetzung heranzuziehen.

Sicher kein Romantiker mehr ist der 1899 geborene Francis Poulenc. Die – verarbeiteten und weiterentwickelten – Einflüsse der französischen Romantik sind in seinem Werk aber unverkennbar. Für religiöse Kompositionen interessierte er sich erst ab der Mitte seines Lebens, ausgelöst durch den Unfalltod eines befreundeten Komponisten und einen darauffolgenden Besuch in der Wallfahrtskapelle Notre-Dame de Rocamadour. Poulencs Chorsatz O magnum mysterium erzählt vom andächtigen Staunen angesichts der Geburt Christi.

Der 1945 geborene englische Komponist John Rutter ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Komponisten kirchlicher Musik. Zu seinen vielfältigen musikalischen Wurzeln zählen die Werke von Fauré und Franck – in der Tat hat er einige davon herausgegeben oder bearbeitet, darunter auch den Cantique de Jean Racine. Und wer schon einmal Musik von Rutter gehört hat, weiß, welchen Wert er auf den emotionalen Gehalt seiner Stücke legt. Wir musizieren Rutters Winchester Te Deum, ein festliches Werk zur Amtseinführung des Dekans der Winchester Cathedral mit Anklängen an französische Carillons. Übrigens hat Rutter auch eine ähnlich festliche Vertonung des 150. Psalms geschrieben.

Der jüngste im heutigen Konzert vertretene Komponist ist Bernd Lechla, vielen bekannt als Kirchenmusiker und Leiter der Ginnheimer Kantorei. Den Schwerpunkt seines kompositorischen Schaffens legt er auf Arrangements für Blechbläser. So hören wir von ihm auch heute kein „geistliches Vokalstück“, sondern Bearbeitungen geistlicher Vokalstücke für Brass-Ensemble.

Im Frühjahr 2018 genehmigte die Kirchenleitung Bernd Lechla eine Studienzeit, die langjährige Mitarbeiter der EKHN alle zehn Jahre in Anspruch nehmen können. Er begab sich auf einen sechswöchigen Langfahrt-Segeltörn über den Atlantik in dessen Verlauf die Komposition „Nun danket all und bringet Ehr“ entstand.

Und vom Text her könnte kaum ein Choral besser in dieses Konzertprogramm passen, denn er fasst in seinen vielen Strophen den Kern des Lobgesangs aus Psalm 150 sowie die Themen der Gnade und der Erleuchtung des Geistes zum Schutz vor dem Dunklen und Bösen aus dem Cantique auf wunderbare Weise zusammen:

2. Ermuntert euch und singt mit Schall Gott, unserm höchsten Gut, der seine Wunder überall und große Dinge tut;

4. Der, ob wir ihn gleich hoch betrübt, doch bleibet guten Muts, die Straf erläßt, die Schuld vergibt und tut uns alles Guts.

5. Er gebe uns ein fröhlich Herz, erfrische Geist und Sinn und werf all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz ins Meeres Tiefe hin.

Bernd Lechla dankt an dieser Stelle den Musikern des Blechbläserensembles Manfred Beutel herzlich für die Uraufführung in diesem Konzert.

„Der Tag ist hin, die Sonne gehet nieder“ ist ein Choral, dessen Melodie aus dem französischen Psalter von 1542 stammt und die J.S. Bach 1736 in sein berühmtes „Schemellis Gesangbuch“ aufgenommen hat.

Das von Bernd Lechla komponierte Auftragswerk für Brass-Ensemble über diesen Choral wurde am 10. Juli 2005 im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten „500 Jahre Tulpenkanzel“ im Freiberger Dom in einem feierlichen Konzert uraufgeführt.

Hier werden Stilelemente aus dem Jazz ebenso verwendet, wie die klassische Form eines Scherzos und einer französische Toccata am Schluss des Werkes. Über den Choralvariationen ist der mittelalterliche „Tonus Peregrinus“ (lat. für „fremder Ton“) eingefügt, der in der evangelischen Tradition vor allem im Zusammenhang mit dem „Magnificat“ bekannt ist.

Text: Dr. Björn Brill

Unsere Aufführungen 2019

Samstag, 26.10.2019, 19.00 Uhr
Heilig-Geist-Kirche (Dominikanerkloster), Kurt-Schumacher-Str. 23
Sonntag, 27.10.2019, 17.00 Uhr
Bethlehemkirche, Fuchshohl 1

Ausführende

Blechbläserensemble Manfred Beutel
Dr. Christian Baumann - Orgel
Ginnheimer Kantorei
Bernd Lechla - Dirigent

Eintritt jeweils 15 € (ermäßigt 10 € für Schüler und Studenten)

Karten im Vorverkauf ab dem 07.10.2019 bei:

…und an der Abendkasse.

Konzertplakat Das Feuer Deiner Gnade

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Letzte Überarbeitung:  $Date: 2019-03-07 02:00:50 +0100 (Do, 07. Mär 2019) $ webmaster
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